„TOR“ Basement Trufanofstrasse 8 | 04105 Leipzig 03 04 2014

"Augendiagnose" Basement Leipzig

BERIT MÜCKE
Augendiagnose
Text: Heike Geißler
Anfang
„Mit jedem Menschen kommt ein Anfang in die Welt“, schreibt Hannah Arendt, und wenn
wir wollen, wissen wir das und führen immer wieder schöne Anfänge auf. Anfänge, die dann
auch zu Wiederholungen werden, zu Wiederholungen von Anfängen, aber zu Anfängen eben,
die menschlich sind.
Arzt
Es ist kein Arzt zugegen.
Aber man kann ja mal fragen.
Hier führt vielleicht wie überall jeder an jedem unweigerlich eine Diagnose durch. Das ist
das Implizite. Und dann wissen wir etwas und stehen mit diesem Wissen in der Falle. Und
kriegen es nicht mit oder kriegen es mit und gehen zurück auf einen Anfang oder setzen
fort mit einem Anfang, der immer eine Wiederholung ist.
Augen
Was für Augen? Gute Augen, schlechte Augen. Schöne Augen, fahle Augen. Adleraugen,
blinde Augen. Immer, immer andere Augen.
Augen jedenfalls sieht man nicht, aber steht auch nicht blind blinden Bildern gegenüber.
Übrigens, das ist so banal, aber wahr: Kaum weiß man, dass man sehen kann, versteht man,
dass man auch gesehen wird.
Begehr
Etwas förmlich, womöglich, etwas schüchtern wohl auch, aber man stelle sich vor, sie hat
eben diesen Wunsch, sie hat da etwas, das trägt sie wie in einer anderen Zeit einer offiziellen
Stelle vor, mit vorsichtigen, höflichen Worten, um also nicht zu aufdringlich zu erscheinen.
Und vorsichtig auch, weil sie ohnehin weiß: Das führt ja doch zu nichts. Sie will da also hinein.
Ganz und gar hinein in die Bilder und sagt sogar, sie male vielleicht nur, um da hinein
zu kommen.
Kein vollkommen aussichtsloses Unterfangen.
Aber es geht nicht auf direktem Weg.
Bewegung
Sie geht übrigens vor den Bildern auf und ab und vor und zurück, auf der Suche nach dem
Bild, aber auch auf der Suche nach dem Eingang. Sie hofft darauf, das Bild einmal durch ihr
Tempo zu verblüffen und doch hineingeraten zu können. Sie hofft folglich auf etwas wie
diesen ja wirklich möglichen, wenn auch ausgesprochen seltenen Zufall, dass einer durch
eine Wand gehen könne, ohne sich zu verletzen, ohne die Wand zu beschädigen.
Basement Trufanofstrasse 8 | 04105 Leipzig
03 04 – 09 05 2014
Hier ist aber auch die Landschaft in Bewegung, legt sich wie etwas Verwischtes vor unsere
Augen. Wir sehen die Momentaufnahme einer vergangenen Eile und zugleich den ruhiger
gewordenen Blick dieser zuvor eiligen Landschaft auf sich selbst, die mit aller Seelenruhe
sagt: Da hatte ich es eilig, ja, da war ich wirklich etwas schnell unterwegs.
Brille
Man mag das für Bäume halten. Aber diese Bäume sehen wie Brillen aus. Man mag das
dann also für die Brille einer Landschaft halten, und annehmen, die Landschaft hätte Augen.
Etwas jedenfalls sieht uns immer an. Oder etwas verschleiert, dass es uns nicht ansieht, uns
anzusehen nicht einmal im Mindesten bereit ist. Wir sind von der bebrillten Landschaft im
Übermaß betrachtet oder vollkommen ignoriert. Wir müssen das selber entscheiden.
Diagnose
Ist etwas los? Mit wem ist etwas los? Wir nehmen, bitte schön, alles auf unsere Kappe und
schließen die Augen oder öffnen sie und wissen, wo wir sind oder wissen es nicht. Es könnte
jedenfalls sein, dass wir, ohne es zu merken, auf eine Toteninsel geraten sind. Darüber
wollen wir mehr erfahren, obwohl wir, genau genommen doch längst alles darüber wissen.
Wo eine Diagnose ist, ist der Patient nicht weit. Auch dort, wo keine Diagnose ist, ist der
Patient nicht weit.
Eingang
Wenn man nun aber nicht direkt hinein kann, dann geht man in der Mitte hindurch?
Links also eine Bildtafel „Toteninsel“, rechts eine Bildtafel „Toteninsel“, und der Weg zu den
anderen Bildern der Ausstellung führt durch die Mitte. Wo sind wir dann? Was weiß man
schon. Man ist in einem Bild? Oder ist man gleich da? Kommt man etwas später? Man kann,
wenn man möchte, sagen: Ich bin ja überall dort, wohin ich mich nur denken kann. Man kann
mit Eva Meyer „Von jetzt an werde ich mehrere sein“ sagen. Spätestens von jetzt an dürfen
wir alle mehrere sein.
Fährmann
Wie gesagt, man tritt ein durch die Lücke in der Mitte. Ganz ohne Fährmann, der bleibt hier
außen vor, der sind wir einfach selber. Oder wer sind wir? Wir kamen ja ganz unbedarft durch
die Lücke in der Mitte, und es hat uns niemand gesagt, dass links und rechts der Lücke die
Toteninsel liegt. Das ist uns einfach so passiert.
Der Fährmann jedenfalls beobachtet das Ganze aus der Ferne, der Fährmann geht seiner
Arbeit auf einem anderen Bild nach.
Gemeinschaft
Sie wollte sich dann also in der Gemeinschaft der anderen aufhalten, vollkommen entschiedenermaßen
dort sein, wo schon viele waren, nämlich in der Gemeinschaft derer, die sich
zum Beispiel an der Toteninsel abarbeiteten.
Horizont
Die Frage dann aber, was nun eigentlich mit dem Horizont sei. Immer zurück zum Horizont,
und immer wieder anfangen mit dem Horizont, der einer zerfließenden Landschaft den
Rücken stärkt und alle Blicke auf sich zieht, und der sich manchmal aufzumachen scheint,
über dunkle Bäume steigen zu wollen, um sich vor sie zu legen und in der Abgeschiedenheit
vom Betrachter worüber auch immer zu verhandeln. (Etwa über die Frage: Geht das auch
anders? Wie seid ihr denn so? Und wie bitte, wollen wir hier künftig zusammen sein?)
Berit Mücke | 0176-99983823 | www.beritmuecke.de
Landschaft
Die Landschaft ist dann eben da, weil wenig, das ausgeschlossen wurde, ausgeschlossen
werden kann, und die Landschaft erscheint wie alles, das sich wirklich sehen lässt und gesehen
wird: beredt und mit Charakter.
Patient
Der Patient tritt auf.
Oder der Patient kommt Tage nach seinem vorangegangenen Besuch wieder, aber ist dann
ein anderer und weist auf die Unterschiede hin. Ist er wirklich ein anderer? Ist er gar anderen
Geschlechts? Würde er sich selbst wieder erkennen?
Der Patient sagt: Ich könnte ja auch das Synonym meiner morgigen Erscheinung sein. Aber
ich bin es nicht.
Der Patient sagt: Im Übrigen bin ich natürlich kein Patient.
Der Patient tritt ab und ruft, er sei wirklich keiner.
Toteninsel
Ihre Toteninsel wie ein Museum des Todes, wie auf einen glänzenden Museumsboden
gesetzt, der nur mit guten, wenigstens sauberen Schuhen zu betreten ist. Ein Museum des
Todes, da darf man sich nicht täuschen lassen, in dessen Inneren, in das man nun einmal
zu leicht und ahnungslos gerät, eine freundliche Museumswärterin vom Fährmann erzählt
und jeden Tag bemüht ist, die Besucher, rechtzeitig wieder nach draußen zu führen, bevor
der Tod auch diese Insel ganz für sich verlangt (er ist und bleibt ja tendenziell unberechenbar).
Im Inneren dieser Toteninsel begegnen wir natürlich allen Toteninseln dieser Welt, auf
jeder Toteninsel befinden sich alle anderen Toteninseln dieser Welt, und wir sehen Böcklins
Initialen auf der Grabkammer, die er nur für sich malte und wissen ihn darin, so wie er sich
darin wusste und dabei nicht hätte belegen können, dass er sich wirklich in seiner eigenen
Grabkammer befand.
Wiederholung
Wo etwas anfängt und in einer Wiederholung noch einmal beginnen kann und zwar so, dass
es sich selbst außen vor lässt und als ein Neues beginnt oder als ein Neues fortsetzt, stellen
wir fest, hier soll keine Landschaft das letzte Wort haben, hier knüpft immer schon eine
nächste an die Vorausgegangene an und formuliert neue Schlussworte, die auch nicht die
letzten sein werden. Hier geht aus einem letzten Wort immer ein neues hervor.
Leipzig, April 2014

Augendiagnose_text heike geißler_2014

 

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